50 Jahre nach dem legendären Mai `68 lassen wir filmisch eine Epoche aufleben, in der alles möglich schien – auch die Symbiose von Kunst und Politik, Rebellion und Kino. Wir konzentrieren uns auf exemplarische Produktionen jener Jahre, Filme von Godard, Harun Farocki, Michel Soutter, Alain Tanner, Fredi Murer, Rudolf Thome, Vera Chytilova. Nicht fehlen dürfen Zeitgeist-Hits wie Woodstock und Easy Rider, Flower-Power-Hymnen wie Psych-Out und Filme mit den Rolling Stones, deren Gimme Shelter das dunkle Gegenstück zum Blumenkinder-Mythos Woodstock bildet.
Der Mai 1968 kam nicht über Nacht. Die Filmgeschichte erlaubt uns wie ein Seismograph des Zeitgeistes den kleinen und grossen Revolutionen nachzuspüren. Bereits zwei Jahre zuvor rüttelten zum Beispiel Antonionis Blow-Up und Godards Masculin Feminin an den Sehgewohnheiten und führten in eine Gesellschaft, die nicht mehr in den alten Fugen ruhte. Sie verlangte nach neuen filmischen Darstellungsformen und Rollenbildern. Ebenfalls bereits 1966 realisierte die tschechische Regisseurin Vera Chytilova mit ihrer Popart-Groteske Sedmikrásky – Kleine Margeriten eine verwegene filmische Explosion. 1967 sollte die wütende Jugend dann bereits den Hollywood-Mainstream erobern. Zu den grössten Hits des Jahres zählten die tragisch-heroische Gangsterromanze Bonnie and Clyde, der erotisch ausgetragene Generationskonflikt von The Graduate sowie die Anti-Rassismus-Komödie Guess Who’s Coming to Dinner.
Kein Wunder, dass die 1968er-Revolution dann praktisch zeitgleich im Kino zu besichtigen war. Während in Paris die Studenten demonstrierten, machte sich in Cannes der Tscheche Milos Forman gerade Hoffnung auf die Goldene Palme mit seiner Satire Der Feuerwehrball aus dem Prager Frühling. Dennoch gehörte Forman zu den ersten, die sich dem Aufruf von François Truffaut und Jean-Luc Godard anschlossen, das Festival aus Solidarität mit den Pariser Studentenprotesten abzubrechen. Auch die Jurymitglieder Louis Malle und Roman Polanski (letzterer durchaus skeptisch) schlossen sich den Kollegen Claude Berri, Claude Lelouch und Jean-Gabriel Albicocco an und erklärten das Festival für beendet. Truffaut und Godard hielten in seltener Eintracht auf der Bühne den Vorhang zu. Am 19. Mai wurde das Festival tatsächlich abgebrochen, Preise wurden nicht vergeben.
Tatsächlich war es ein Pariser Kino, in dem die dortige Revolte begann, noch dazu das bedeutendste der Stadt, die Cinémathèque française. Kulturminister André Malraux hatte den Gründer Henri Langlois des eigenen Hauses verwiesen. Vor dem Rollgitter des Filmmuseums am Palais de Tokyo formierte sich ein kleiner Schneeball des Protestes, der den ganz grossen vielleicht erst geformt hat.
Godards bereits 1967 gedrehter Politfilm La chinoise wirkt aus heutiger Sicht wie eine satirisch überspitzte Vision kommender Ereignisse: Eine kleine Gruppe von Studenten huldigt darin Mao und debattiert über die Möglichkeiten, dessen Ideale notfalls mit Terror durchzusetzen. Godards Ironie, die freilich nichts ins Lächerliche zieht, speist sich aus dem konstituierenden Widerspruch wohl jeder Revolution: der Frage nach der Lebenstauglichkeit von Ideologie. Noch heute bestechen die Natürlichkeit des Gesprächstons und Godards Blick auf die Schwächen seiner Protagonisten. Im Vorübergehen schuf Godard ein vorausschauendes Zeitbild bis hin zu einer latenten Frauenfeindlichkeit, die er den Möchtegern-Rebellen in die Schuhe schob. So ist Jean-Pierre Léaud nur in der Lage, seiner Freundin zuzuhören, wenn die richtige Musik dabei läuft.
Wer sich diese bewegten Jahre zwischen zwei Filme klemmen möchte, kann auf der anderen Seite Alain Tanners Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000 platzieren. Sein Film aus dem Jahre 1976 spielt in einer Kommune von 30-Jährigen, die nicht nur positive Erinnerungen an die 68er-Revolution verbindet. Der am Ende des Films geborene Knabe Jonas lässt sie auf Einlösung der Utopien hoffen – erst im Jahre 2000 wird er 25 sein.
Für die Hippie-Bewegung, die bereits 1967 zu einem weltweiten Phänomen geworden war, hatte sich eine spezifische Filmästhetik längst definiert. Etwa durch Michelangelo Antonionis Blow-Up, der 1967 in Cannes gewonnen hatte, oder durch Andy Warhols Zeitgemälde Chelsea Girls (1966). Aus dem Soundtrack der Protestbewegung sind die Rolling Stones nicht wegzudenken. Für ihre Konzert- und Tourneefilme wählten sie zwei der modernsten Filmemacher ihrer Zeit. Während Gimme Shelter weltweit gezeigt wurde, lagen sie mit Godard wegen dessen One Plus One jahrelang in einem Rechtsstreit. Und Robert Franks experimentellen Dokumentarfilm Cocksucker Blues zogen sie noch vor der Aufführung zurück: Der grosse Schweizer Fotograf und Filmemacher hatte 1972 auch die Drogenexzesse dokumentiert.
Andere Filmemacher schienen sich eher von den visuellen Wirkungen der halluzinogenen Substanzen anregen zu lassen: Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey startete im April 1968 in den USA - und floppte: Erst spätere Wideraufführungen machten ihn zum Kultfilm. Kubrick hatte nicht nur die erste moderne Weltraumoper geschaffen, vor allem sein verhalten-meditativer Erzählton sollte erst noch populär werden.
Im deutschen Sprachraum feierten dagegen um 1968 biedere Aufklärungsfilme und die ersten Sexkomödien Erfolge. Es war das Jahrzehnt der für ihre Nacktszenen begehrten «Schwedenfilme», wozu Ingmar Bergmans zeitkritisches Psychodrama Das Schweigen ebenso gezählt wurde wie die Komödie Inga - Ich habe Lust. Über Mundpropaganda gelang es dem unabhängig produzierten Kleinod Zur Sache, Schätzchen 1968 in Deutschland von einem «Sleeper» zu einem Millionenerfolg aufzuschiessen. Regie führte die Debütantin May Spils, die ihren Freund und späteren Lebenspartner Werner Enke als sprücheklopfenden Tagedieb strahlen liess. Spils und Enke gehörten neben Rudolf Thome und Klaus Lemke zu einer jungen Münchner Filmavantgarde, die auf Distanz ging zum seriösen Autorenfilm und den noch jungen staatlichen Förderstrukturen. Thomes nihilistischer Thriller Rote Sonne ist deutlich von Godard beeinflusst in seiner betont unspektakulären Verwendung von Genreelementen. Das Ereignis sind die Hauptdarsteller: Marquard Bohm, der es punkto Coolness mit Belmondo aufnehmen kann, und die strahlend schöne Kommunardin Uschi Obermaier. Ein offen ausgestellter Fatalismus charakterisiert dieses subversive Genrekino, als dessen grösster Erfolg Dennis Hoppers und Peter Fondas Gemeinschaftsarbeit Easy Rider gilt.
Einen ganz anderen Filmstil wählte Harun Farocki für seinen Protestfilm Nicht löschbares Feuer. Auf Augenhöhe mit der Performancekunst jener Zeit demonstriert er die Wirkung von Napalm mit einer auf der eigenen Hand zerdrückten Zigarette.
Ganz gleich, ob man die 68er-Revolution nun als geglückt oder gescheitert betrachtet: Für das Kino erwies sie sich als Glücksfall. Utopie und Realismus, Vision und Diskurs gingen eine einzigartige Symbiose ein.
Daniel Kothenschulte
Der Autor ist Filmkritiker, Filmwissenschaftler, Dozent und Kurator und lebt in Köln.