Ein programmatischer Auftakt: Mit Jürg Hasslers dokumentarischem Manifest Krawall wurde im November 1970 das Berner Kellerkino eröffnet. Wir blicken zurück in die Pionierzeit des ersten unabhängigen Kinos in der Schweiz und zeigen legendäre Kellerkino-Filme aus den 1970er-Jahren.
Bernhard Giger
Das Kellerkino war das erste unabhängige Kino der Schweiz. Es gab städtische Spielstellen wie das Filmpodium in Zürich mit ähnlichem Programm, aber kein vergleichbares Kino. Für die Branche war das Kellerkino ein Ärgernis. Man wollte das nicht, unter keinen Umständen. Das hat die Kinogründer nicht abgehalten, sich dennoch auf das Abenteuer einzulassen. Vielleicht wussten sie einfach noch zu wenig darüber, was ihnen blüht. Denn Kinoerfahrungen hatten sie nicht, die zwei befreundeten Paare, Susanna und Hanspeter Walker und Theres und Heinrich Scherer.
Der Start des Kellerkinos fiel in eine Zeit, die Jahre nach der Revolte von 1968, als das, was Film ausmacht, und damit das Kino überhaupt, radikal neu definiert wurde. Die Stagnation der industrialisierten Filmproduktion war die Chance des jungen Films. Anderes Kino sagte man später, und meinte damit ein neues Verständnis des Filmemachens, des Filmevertreibens und des Filmeschauens: striktes Autorinnen- und Autorenkino; Film als Selbstfindung und Selbstbefreiung; politisch Filme machen, Filme mit einer Identität, die dort verankert sind, wo sie entstehen. Die kleinen Mittel – eben nicht Industrie, sondern Manufaktur – wurden stilbildend für den neuen Film. Man sah den Filmen an, dass sie mit wenig Geld gedreht wurden. Das sollte man auch, kleine Mittel waren kein Armutszeugnis mehr, sondern Markenzeichen.
Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes, 1972 herausgekommen, die Geschichte spanischer Eroberer im 16. Jahrhundert, die im Amazonasgebiet nach dem legendären Eldorado und dessen Goldschatz suchen und dabei grausam scheitern, hatte ein Budget von mickrigen 370'000 Dollar. Das war Herzog erst recht Ansporn, den Film zu machen: Die Dreharbeiten wurden zur gleichen kräfte- und nervenzehrenden Expedition in unwegsames Gebiet wie die abstruse Reise 400 Jahre zuvor. Aguirre, der Zorn Gottes wurde 1972 eine der ersten grossen Erstaufführungen des Kellerkinos, zugespitzt: Herzogs Durchbruch in der Schweiz.
Alternatives Kino, das bedeutete nicht nur andere Filme, sondern auch andere Formen der Vermittlung. Dazu gehörte, dass Filme vor allem auch zu Diskussionen über ihr Thema animieren sollten. Und dass sich wiederum aus diesen Diskussionen politische Aktivität entwickelt. So trug 1973 die Aufführung von Rosa von Praunheims Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt massgeblich zur Gründung der HAB, der Homosexuellen Arbeitsgruppe Bern, bei. «Das Kino war jeden Abend voll gewesen, und nach jeder Vorführung wurde diskutiert», sagte Theres Scherer später. «Damals wurde Homosexualität noch nicht so öffentlich diskutiert. Viele Leute sprachen zum ersten Mal vor anderen über ihre Probleme.» 92 Prozent betrug die Auslastung des Kinos während der Laufzeit des Praunheim-Films – das war für lange Zeit Rekord bei den Eintritten.
«Die Ethik des unabhängigen Films», sagte Theres Scherer 1980 in einem Gespräch mit Radio DRS, «ist die Kompromisslosigkeit. Wir gehen nie von kommerziellen Überlegungen aus, sondern immer von dem Film selber, von dem Thema, der Attraktivität eines Films, der Schönheit, der Aussage oder der Form. Also immer der Film ist bestimmend, nie das Geschäft.» Mit dieser Kompromisslosigkeit wurde das Kellerkino zur Plattform des neuen Films. Allmählich bildeten sich ähnliche Spielstellen auch anderswo, im Verleihgeschäft hielten alternative Vertriebsformen Einzug. Das andere Kino begann sich zu vernetzen. Die Strukturen, die sich hier erstmals bildeten, waren die Grundlagen des Alternativ- und späteren Programm- und Arthouse-Kinos, wie es heute in zahlreichen Städten betrieben wird. Vereinfacht, aber durchaus stringent: Ohne das Kellerkino gäbe es in Bern kein Kino REX.
Bernhard Giger, Leiter des Kornhausforums und Filmemacher, war Programmmitarbeiter des Kellerkinos. Der ganze Text von Bernhard Giger zur Geschichte des Kellerkinos findet sich in der Publikation 5+50, die Mitte Oktober zum Geburtstag von Kellerkino und REX erscheint.