Von altem Holz bis zu jungen Zucchini: Vor hundert Jahren wurde in der Schweiz der erste Animationsfilm realisiert. Wir feiern dieses Jubiläum mit Schweizer Kurz- und Langfilmen, einem Podium zur Berner Szene und einer Auswahl internationaler Produktionen jenseits von Disney, Pixar und Mainstream-Animes.
Christian Gasser
«And the winner is …» – Nein, der Academy Award für den besten Animationsfilm ging 2017 nicht an Ma vie de Courgette – Mein Leben als Zucchini von Claude Barras. Doch auch ohne die ultimative Anerkennung durch die amerikanische Filmindustrie erlebte dieser Puppenanimationsfilm eine fulminante Karriere. Er wurde unter anderen mit dem europäischen, dem französischen und dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet und war auch an den Kinokassen erfolgreich: Allein in Frankreich verzeichnete der Film über 800'000 Eintritte und spielte so seine Produktionskosten problemlos ein, in der Schweiz war er 2016 der erfolgreichste einheimische Film.
Dabei war der Erfolg alles andere als selbstverständlich: In Ma vie de Courgette erzählt Claude Barras die bittersüsse Geschichte Zucchinis, eines neunjährigen Buben mit blauen Haaren und grossen traurigen Augen, der unwillentlich seine alleinerziehende und alkoholkranke Mutter umbringt und in ein Heim für Kinder aus schwierigen Verhältnissen gesteckt wird. Das klingt wie der Stoff für ein düsteres oder gefühlsduseliges Sozialdrama, doch Barras zaubert daraus einen poetischen, zutiefst emotionalen und trotz seiner Abgründe humorvollen Film über Freundschaft und Solidarität, der nicht zuletzt vom handgemachten Charme der stilisierten Puppen lebt.
Der künstlerische wie kommerzielle Erfolg von Ma vie de Courgette markiert einen wegweisenden Höhepunkt in der noch jungen Geschichte des abendfüllenden Schweizer Animationsfilms – und ist der Beweis, dass auch Schweizer Filmschaffende in der Lage sind, einen international erfolgreichen Kinostoff zu entwickeln. Damit steht diese Produktion für einen Umbruch im Schweizer Animationsfilm, der lange synonym war mit kurzen Autorenfilmen.
Zwischen Pragmatismus und grossen Träumen
Der Schweizer Animationsfilm steht in der kreativsten, produktivsten und ehrgeizigsten Phase seiner 100-jährigen Geschichte. Noch nie wurden in der Schweiz so viele Animationsfilme geschaffen, noch nie waren sie auch international so erfolgreich wie heute.
Künstlerisch lassen sich im unabhängigen Schweizer Animationsfilm – im Gegensatz etwa zum Realfilm – nach wie vor keine klaren Trends ausmachen. Eine Tradition, eine «Schweizer Schule», sucht man vergebens. Der provokativ zugespitzte Befund des Filmhistorikers Roland Cosandey, «le cinéma suisse d'animation n'existe pas», trifft bis heute zu. Dafür gibt es viele sehr unterschiedliche Animationsfilme. Seit Nag und Gisèle Ansorges ersten Animationsfilmen in den 1960er-Jahren wird der künstlerische Animationsfilm von Individualist*innen geprägt.
Das Fehlen einer Tradition, an der sich die Autor*innen orientieren oder reiben, das weitgehende Fehlen einer kritischen und historischen Auseinandersetzung mit dem Schweizer Animationsfilm, aber auch das Fehlen einer Filmindustrie mit ihren Mitteln, Mechanismen und Gesetzen eröffnet ihnen zunächst einmal künstlerische Freiräume. Die inexistente Industrie und der kleine Markt weisen dem Schweizer Animationsfilm aber auch seine Grenzen auf: Nicht alles ist finanzier- und machbar, und auch in näherer Zukunft dürften Serien und Langfilme die Ausnahme und der Kurzfilm das Fundament bleiben. In diesem Spannungsfeld zwischen kreativer Freiheit und ökonomischen Behinderungen, zwischen Pragmatismus und grossen Träumen sucht der Schweizer Animationsfilm derzeit seinen Weg.
Im Treibsand der Animation
Die Geschichte des Schweizer Animationsfilms begann mit einem künstlerischen und ökonomischen Paukenschlag: 1921 entstand Histoire de Monsieur Vieux-Bois, der Film, der als der erste Schweizer Animationsfilm gilt. Realisiert wurde er zwar in Frankreich von Lortac & Cavé, zwei Koryphäen des frühen Animationsfilms, doch die Auftraggeberin, die kurzlebige, zwei vermögenden Genfern gehörende Produktionsfirma Pencil Film, und der Stoff waren schweizerisch: Histoire de Monsieur Vieux-Bois war die schmissige Adaption der berühmten gleichnamigen Bildgeschichte, die der Genfer Comic-Pionier, Schriftsteller, Karikaturist, Schuldirektor und Politiker Rodolphe Töpffer 1827 gezeichnet hatte.
Mit seiner Länge von 43 Minuten zeugte die satirische Schilderung der amourösen Missgeschicke des bürgerlichen Erzromantikers Vieux-Bois von einer für den damaligen Kontext beachtlichen Ambition. Dieser Paukenschlag verhallte jedoch folgenlos. Histoire de Monsieur Vieux-Bois blieb ein einmaliges Abenteuer im Bereich des unterhaltsamen Animationsfilms. Bis weit in die 1960er-Jahre waren Kunst und Unterhaltung im Schweizer Animationsfilm so gut wie inexistent; Animationsfilme entstanden im Auftrag als Werbe- und Industriefilme, Schulungs- und Armeefilme.
Das liegt vermutlich nicht zuletzt daran, dass sich Julius Pinschewer, der bedeutende deutsche Pionier des Werbefilms, kurz nach der Machtergreifung der Nazis in der Nähe von Bern niederliess und das Pinschewer Film-Atelier aufbaute. Dank seiner grossen Erfahrung setzte er im animierten Schweizer Auftragsfilm neue Standards.
Zentral für die künstlerische Emanzipation des Animationsfilms war das vor allem im Bereich des psychiatrischen Auftragsfilms tätige Ehepaar Nag und Gisèle Ansorge. Eher zufällig entdeckten sie die Technik der Animation mit Sand auf Glas – und das bewog sie, vermehrt auch ihre eigenen Filme zu schaffen. Mit Les corbeaux, der mittelalterlichen Ballade um einen Vagabunden und Schürzenjäger, der von einer Dorfbevölkerung in den Tod gejagt wird, landeten sie 1967 den ersten international rezipierten künstlerischen Animationsfilm der Schweiz.
Die internationale Anerkennung ihrer Filme zeitigte positive Folgen: Die Kulturförderung wurde auf den Animationsfilm aufmerksam. Ein Bewusstsein, dass Animationsfilm auch Kunst sein kann, führte zu ersten, allerdings noch bescheidenen und vor allem unsystematischen Unterstützungsansätzen. Um diese Situation zu verbessern, wurde 1968 die Schweizer Trickfilmgruppe (GSFA) gegründet, die sich bis heute als ein wirkungsvolles Instrument im Ringen um mehr Akzeptanz und Förderung erweist.
Allerdings blieb das Schweizer Trickfilmschaffen bis zum Ende der 1980er-Jahre überschaubar; deshalb finden sich in diesem Jubiläumsprogramm zu den ersten hundert Jahren Schweizer Animationsfilm deutlich mehr Filme aus dem 21. denn aus dem vorherigen Jahrhundert.
Eine Szene entsteht
Erst ab 1990 entsteht in der Schweiz das, was man mit Fug und Recht als eine Szene bezeichnen kann: eine lebendige, kreative, vielseitige und erfolgreiche Szene in einem Umfeld, das mehr und mehr auch kontinuierliches Schaffen erlaubt.
Die Entfaltung des Schweizer Animationsfilms seit 1990 ist kein regionales oder nationales Phänomen, sondern eingebettet im internationalen Kontext. Die vergangenen dreissig Jahre haben den Animationsfilm weltweit grundlegend verändert: Die Digitalisierung, der Boom des Animationsfilms im Kino, die Sichtbarkeit früher unauffindbarer Kurzfilme im Internet, die Vervielfältigung der Festivals, die mit Fantoche in Baden (seit 1995) und Animatou in Genf (seit 2005) auch die Schweiz bereichert. Dazu kommt ein Boom von animierten Spielfilmen von hoher Qualität, die den Animationsfilm vom allzu einengenden Stigma des Kinder- und Familienfilms befreiten und ihm ein neues jugendliches und erwachsenes Publikum erschlossen. Eine Handvoll internationaler Produktionen, die diese Entwicklungen illustrieren, zeigen wir parallel zum Schweizer Schwerpunkt – darunter der vielfach preisgekrönte Anomalisa von Charlie Kaufmann, Masaki Yuasas wahnwitziger Kultfilm Mind Game und nicht zuletzt der visuell wie erzählerisch atemberaubende Kunst- und Psycho-Thriller Ruben Brandt, Collector, ein Parforce-Ritt durch Museen und die Kunstgeschichte.
Diese Entwicklungen haben nicht zuletzt dazu geführt, dass der Animationsfilm – insbesondere der Kurzfilm – nicht länger die Angelegenheit eines kleinen Zirkels von Autor*innen und Eingeweihten ist. Mehr und mehr Leute stossen dazu, die kreative Basis, auf der er gedeiht, ist breiter und vielfältiger geworden.
Dieses Interesse greifen auch in der Schweiz neue Ausbildungsmöglichkeiten auf: 2002 rief die Hochschule Luzern – Design & Kunst die Studienrichtung Animation ins Leben, seit 2005 vermittelt auch die private Schule Ceruleum in Lausanne das animatorische Handwerk.
Dieser Aufschwung indes wird durch zwei problematische Faktoren gebremst: Zum einen ist die Schweiz nicht Teil der EU und aus diesem Grund aus vielen europäischen Filmförderprogrammen ausgeschlossen. Zum anderen ist der Schweizer Markt so klein, dass sich nie eine echte Filmindustrie entwickelt hat. Der Schweizer Film ist ein Produkt der Schweizer Filmförderung. Umso wichtiger ist deshalb, dass sich die Rahmenbedingungen der Förderung seit der Mitte der 1990er-Jahre deutlich verbessert haben.
1996 wurde der Pacte de l'audiovisuel geschlossen, der das Fernsehen stärker in die Pflicht nimmt. Parallel dazu begann das Bundesamt für Kultur, den Animationsfilm als eigenständige Filmgattung zu fördern. Nicht zuletzt hat auch die regionale Kulturförderung, etwa das Cineforom in der französischen Schweiz, die Zürcher Filmstiftung oder die Berner Filmförderung, die (wirtschaftliche) Bedeutung des Films entdeckt und unterstützt vermehrt auch den Animationsfilm. Wenn sich Bern, wie der Berner Fokus in diesem Schwerpunkt zeigt, in den letzten Jahren dank eigenwilligen Einzelgängerinnen und Kollektiven und Studios wie YK, Eisprung, Piaf und anderen als kreativer Hotspot des Schweizer Animationsfilms etabliert hat, liegt dies nicht zuletzt an der Fördersituation. Berner Talente müssen nach ihrem Studium nicht länger nach Zürich abwandern – sondern können ihre Projekte in Bern realisieren und dabei auch Arbeitsmöglichkeiten für andere Animatorinnen und Animatoren schaffen.
Es gibt heute also deutlich mehr Geld für den Animationsfilm als noch in den frühen 1990er-Jahren; das lässt sich nicht nur an der Qualität des Schweizer Animationsfilms ablesen, sondern schlicht auch an der Quantität: Wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren im Schnitt fünf kurze Animationsfilme pro Jahr hergestellt, erhöhte sich der Output in den 1990er-Jahren auf jährlich zehn Filme. Im folgenden Jahrzehnt vervielfachte sich die Produktion: Wurden 2003 für den Schweizer Wettbewerb an Fantoche noch 55 im Zeitraum von Juni 2001 bis Juni 2003 entstandene Filme eingereicht, waren es 2010 ganze 92 Filme – und dies nach der Umstellung des Festivals auf einen jährlichen Rhythmus. Die Zahl der Einreichungen ist laut der künstlerischen Leiterin von Fantoche, Annette Schindler, seither mehr oder weniger stabil bei 70 bis 90 Filmen pro Jahr geblieben.
Drei Generationen
Diese Entwicklung ging nicht von einem Tag auf den nächsten vonstatten, sondern war das Resultat eines langwierigen Prozesses. Heute sind drei Generationen von Autor*innen in der Szene aktiv, vom 1944 geborenen, international gefeierten Altmeister Georges Schwizgebel bis zu den über fünfzig Jahre jüngeren Hochschul-Absolvent*innen. Auch das trägt zur Vitalität und Vielfalt bei: Jede Generation hat ihren eigenen Zugang zur Animation, eignet sich ihre Sprache und Techniken auf anderem Weg an, hat andere Einflüsse, macht andere Erfahrungen und entwickelt andere Ansprüche. Das prallt nun alles in diesem überschaubaren, gut vernetzten Biotop zusammen, in einer gesunden Konfrontation von gegenseitiger Neugierde, Respekt, Anregung, Kollaboration, Herausforderung und Konkurrenz.
Der älteren Generation um Georges Schwizgebel, Jonas Raeber, Ted Sieger, Claudius Gentinetta, Basil Vogt und anderen gemein ist, dass sie weitgehend Autodidakten sind und ihre Anfänge vor 1990 liegen, also vor der Digitalisierung und dem audiovisuellen Pakt. Die mittlere Generation stiess im Lauf der 1990er-Jahre und um die Jahrhundertwende zum Animationsfilm, hatte also von Anfang an Zugriff auf digitale Technologien. In dieser Generation mischen sich Autodidakt*innen (Zoltán Horváth, Sam und Fred Guillaume) mit Leuten, die an Kunst- und Filmhochschulen mit dem Animationsfilm in Berührung kamen (Isabelle Favez, Claude Barras) und ihr Handwerk zum Teil mit weiterführenden Studien an spezialisierten Schulen oder in Studios im Ausland vertieften (Anne Baillod, Rafael Sommerhalder). Die meisten Vertreter*innen der jüngsten, ab der Mitte der 2000er-Jahre aktiven Generation schliesslich, so etwa Michaela Müller, Anja Kofmel, Marina Rosset, Jadwiga Kowalska, Veronica Montaño oder Aline Höchli, sind Digital Natives mit einer Animationsausbildung, die ihre Filmprojekte und Karrieren nicht zuletzt deshalb mit einem von vornherein vollständigeren handwerklichen Rüstzeug und einem anderen Selbstverständnis in Angriff nehmen. Mit der jüngsten Generation hat auch eine erfreuliche und zu einer inhaltlichen wie formalen Ausweitung führende Feminisierung des sehr lange sehr männlich geprägten Schweizer Animationsfilms geführt.
Hundert Jahre Schweizer Animationsfilm – die Qualität und die Vielfalt des hiesigen Schaffens sind, wie dieser Schwerpunkt sichtbar macht, bestechend. Besonders vielversprechend ist, dass dieser Rückblick auf die ersten hundert Jahre alles andere als ein Abschluss ist; im Gegenteil, noch nie standen die Aussichten für weitere Entwicklungen so gut wie heute – nicht zuletzt in Richtung Spielfilm, Anidoc, Fernsehserien und andere Anwendungen.
Christian Gasser ist Kulturwissenschaftler, Dozent an der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Publizist und freier Schriftsteller. Mit Animation.ch – Vielfalt und Visionen im Schweizer Animationsfilm (Benteli-Verlag), hat er das bisher einzige repräsentative Werk zum zeitgenössischen Schweizer Animationsfilm publiziert.
Wir danken für die Unterstützung:
Hochschule Luzern – Design & Kunst, Daniela Meier
GSFA - Groupement Suisse du Film d’Animation, Monica Stadler