Nemesis
Schweiz 2020, 132', DCP, OV/f. ab 8 J., Regie Thomas Imbach. Drehbuch Thomas Imbach.
Wie in seinem früheren Film Day is Done blickt Thomas Imbach wieder aus seinem Atelier. Dieses Mal hält er die Zerstörung des Güterbahnhofs in Zürich und den Neubau eines Gefängnis- und Polizeizentrums an seiner Stelle fest. Und er denkt über das Vergehen der Zeit nach.
Ein kraftloser Körper in den letzten Atemzügen, riesig und mit den Jahren schwer geworden, besetzt er die Landschaft mit seiner schieren Masse: Der Güterbahnhof. Einst in nur neun Monaten erbaut, hat er dem Quartier Aussersihl und der ganzen Stadt Zürich zu Wachstum und Wohlstand verholfen: Warenströme wurden entfesselt und der Zugang zur Welt geöffnet. Heute ist der Güterbahnhof Geschichte: anstatt Austausch und Öffnung wird hier in Zukunft kontrollierter Stillstand und Abschottung herrschen, denn an seiner Stelle wird sich das Gefängnis und Polizeizentrum erheben.
Der Filmemacher Thomas Imbach trotzt in seinem Film der Zerstörung Leben und Schönheit ab. Tag für Tag filmt er aus seinem Fenster die einstürzenden Dächer, hält fest, wie der entstellte Leichnam minutiös in seine Einzelteile zerlegt wird: wie die Dachpappe einer Haut gleich vom Körper gezogen wird und die Rippen der Kellergewölbe plötzlich offen und schutzlos daliegen. Die leergeräumte Brache wird zur Baugrube für das neue Polizeigefängnis. Aus ihr entsteigen Stimmen von Menschen, die, vielleicht voller Hoffnung, auf dem beschwerlichen Weg über das Mittelmeer zu uns kamen. Anstatt hier ein freieres und selbstbestimmteres Leben zu führen, könnten sie in Zukunft auf diesem Gelände festgehalten werden. Thomas Imbachs Bestürzung veranlasst ihn dazu, die laufende Zerstörung, den jahrelangen Stillstand sowie die Entstehung des neuen Betonkolosses festzuhalten, um daraus eine persönliche Chronik zu komponieren.
«Ich habe mit Nemesis vor sieben Jahren begonnen, weil es mir das Herz brach, als die Regierung entschied, den alten Güterbahnhof abzureissen. Ich glaube, dieser Abbruch wird bald als ein Akt des architektonischen Vandalismus beurteilt werden. Der langsame Tod dieses langjährigen Nachbarn hat mich dazu gebracht, über das Vergehen der Zeit nachzudenken; Empfindungen, die von frühen Erinnerungen an den Tod meines Grossvaters bis zu neueren Geschehnissen reichen, als ein befreundeter Filmemacher an Krebs erkrankte. Ich erlebe diese Zeit als eine Zeitenwende, bei der uns im Zuge der technologischen und politischen Entwicklung innerhalb von wenigen Jahren neue Prioritäten aufoktroyiert werden. Die Erinnerung an Vergangenheit wird zunehmend ans Internet delegiert. Jedes Ereignis ist per Mausklick erreichbar. Die Stadt und ihre Architektur sind in Apps vorprogrammiert, wir müssen sie nicht mehr selber entdecken. Auf diesem Flecken Erde – in der Grösse von 15 Fussballfeldern – geht die Auflösung des Geschichts-Raumes noch ganz brachial und konkret vonstatten. Wie war es überhaupt möglich, dass ein Bauwerk mit dem architektonischen Volumen, wie es sonst in unserem Land nicht mehr existiert – zwei Hallen von 400 Metern Länge mit über 100 Sheddächern – für ein Gefängnis mit 300 Insassen und unzähligen Büros geopfert wird?
Ich habe schon einmal einen Film während 15 Jahren aus meinem Fenster heraus gedreht (Day Is Done, 2011) und im Lauf der Jahre einen sechsten Sinn entwickelt, der es mir ermöglichte, bei bestimmten Geräuschen, Lichtern oder auch einfach aus einem Instinkt heraus sofort zu reagieren. Ich habe nie nach Plan gedreht, sondern es passierte alles inmitten meines Alltags und den anderen Projekten. Natürlich habe ich immer wieder etwas verpasst und mich darüber aufgeregt, aber das hat zum Spiel dazugehört. Beim Abbruch des Güterbahnhofs war es nicht möglich vorauszusehen, wann eines dieser besonderen Glasdächer einstürzen würde. Also habe ich dort eine Ausnahme gemacht und während Wochen stundenlang hinter der Kamera mit dem Finger am Auslöser auf den richtigen Moment gewartet. Nach dieser destruktiven Phase habe ich nach Spuren von Leben Ausschau gehalten. In den Jahren nach dem Abbruch und vor dem Baubeginn habe ich insgeheim gehofft, dass die Natur das Gelände zurückerobern wird. Das erste Mal, als ich an einem Sonntagmorgen den Fuchs entdeckte, war ich ganz aus dem Häuschen und freute mich über den neuen Nachbarn. Bei Baubeginn imponierten mir die Arbeiter, die den Rohbau betonierten, mit ihrer archaischen Ausstrahlung. Sie haben mich an Pier Paolo Pasolinis Laiendarsteller in Il Vangelo secondo Matteo erinnert. Ironischerweise verkörpern sie das Gegenteil zu dem im Film geschilderten Trend hin zu einem totalen Sicherheitsapparat.
Weshalb habe ich den Film vor der Fertigstellung des Gefängnisses und des Polizeikomplexes abgeschlossen? Ich hatte bald bereits genug Filmmaterial für zwei Filme! Aber noch wichtiger war, dass ich mich nie für das neue Gebäude als architektonisches Ereignis interessiert habe. Vielmehr wollte ich untersuchen, für was es steht. Als der Rohbau des Gebäudes fertig war, hat es mir gereicht; also liess ich es im Film als Ruine stehen.» Thomas Imbach