Heicho – Der Blues des Walter Liniger
Schweiz 2019, 60', DCP, Dialekt/E/d. Regie Reto Camenisch. Drehbuch Reto Camenisch. Mit Walter Liniger, Hank Shizzoe, Livia Anne Richard, Bänz Friedli.
1982 wandert der 33-jährige Berner Sekundarlehrer Walter «Wale» Liniger in den amerikanischen Süden aus. 1984 lässt er sich in der Kleinstadt Oxford, Mississippi, nieder. Seine Mission: die Ergründung der Blues-Musik. Wale Liniger verbringt insgesamt 37 Jahre in den USA und beschäftigt sich beruflich und privat mit dem Blues als philosophisches, historisches, literarisches und musikalisches Ereignis. Wale Liniger ist kein Theoretiker. Darum spielt und singt er den Blues auch. Mit der Autorität und Hingabe desjenigen, für den der Blues mehr ist als nur eine Möglichkeit. Der Film erzählt die Geschichte des Blues-Musikers und Intellektuellen Wale Liniger und seiner Suche nach der Unverfälschtheit und der Essenz des Blues. «Ich habe immer gewusst, dass das, was ich sehe, und das, was ich höre, nicht alles sein kann», meint Liniger am Schluss des Films. Ein Fazit, das im ersten Moment beunruhigend wirkt, zumal sich dieser Mann doch fast 40 Jahre lang mit Blues auseinandergesetzt hat. Im Film redet Wale Liniger über die Exotik des Fremden, über das Weggehen und das Nachhausekommen und über die unbändige Kraft soziokultureller Prägung.
Der Fotograf und Filmer Reto Camenisch begleitete Wale Liniger während zweier Jahre in der Schweiz und im Süden der USA. Ehemalige Schülerinnen, etwa die Berner Regisseurin Livia Anne Richard und der Musiker Hank Shizzoe oder der Musikjournalist Bänz Friedli, kommentieren den Blues des Wale Liniger.
Reto Camenisch über seinen Film
Das erste Mal traf ich ihn in 1989 in Thun, eigentlich mehr zufällig, da Walter «Wale» Linigers Agent gleichzeitig mein Büro Untermieter war. Seltsamerweise traf ich Liniger Wochen später in meiner Eigenschaft als Pressefotograf wieder, nämlich während eines Interviews mit Bänz Friedli für die Berner Tageszeitung Der Bund. Sein Wissen über Blues war beeindruckend und seine Beschreibungen darüber, was das alles mit ihm zu tun hat, tief bewegend. Jedes Wort war wohl gewählt, seine Rhetorik war schlicht und ergreifend brillant. Mein Wunsch, ihm zuzuhören war weitaus grösser, als der Drang ihn zu porträtieren. Seine Erzählungen erinnerten mich an Mark Twains Buch « Die Abenteuer des Huckleberry Finn». Dieses Buch habe ich als 12 jähriger geradezu verschlungen, es war die erste Begegnung mit dem «Grossen Fluss» namens Mississippi, aber auch mit den Themen Sklaverei und Rassismus. Vor allem aber identifizierte ich mich mit der Figur des Huck Finn und seinem Schicksal, ohne Vater aufwachsen zu müssen. Er war mein heimlicher Verbündeter, mein Seelenverwandter, ich sah in ihm einen Leidensgenossen. All diese Eindrücke vermischten sich und ich fand ein Wort dafür, welches an diffuser Beschaffenheit nicht zu überbieten war: Blues!
So reiste ich 1991 ins Mississippi Delta, alles in der festen Absicht, eine Reportage über Blues zu machen. Da Wale schon seit 1982 im Delta lebte und dort Gott und die Welt zu kennen schien, hoffte ich auf einen mir nützlichen Experten und Vermittler. Meiner diesbezüglichen Anfrage begegnete er zumindest nicht ablehnend und so fuhr ich nach meiner Ankunft in Memphis TN gleich nach Oxford MS. Ein, zwei Tage später fuhren wir in seinem alten, weissen Chevrolet Van zu einigen typischen Delta Blues- «Hot Spots». So auch zu seinem Lehrer James Son Thomas, einem der letzten lebenden Blues-Legenden des Deltas. Thomas wohnte in einer heruntergekommenen, baufälligen, alles andere als paradiesischen Baracke in Eden, Mississippi. Es war einer dieser feuchtkalten Herbsttage. Die Hütte war komplett überheizt, der Geruch von abgestandenem Rauch, Kochresten, feuchter und modernder Kleider schwer zu ertragen. Son Thomas sass in einem fleckigen Tank-Shirt und kurzen Hosen auf dem Bettrand, rauchte ununterbrochen, war mir gegenüber ablehnend, sprach in einem mir unverständlichen Südstaatenslang und vor allem nur mit Wale. Eine Mischung aus Ekel, Angst und Traurigkeit machte sich in mir breit. Die Heizung glühte, der kalte Wind blies durch die Bodenfliesen, meine Füsse waren eiskalt und die Stirn übersät mit Schweissperlen. Bloss nichts anfassen, nirgends hinsetzen. Ich versuchte mich aufs Bildermachen zu konzentrieren, belichtete ein paar Filmrollen und liess dann Walte wissen, dass ich hatte, was ich wollte und wir nun gehen könnten. Beim Einsteigen ins Auto dann Walters Kardinal Frage: «Musstest Du Dich hinter der Kamera verstecken, weil Du‘s sonst nicht ausgehalten hättest und wolltest Du nicht eine Reportage über Blues machen?» Mit dieser einzigen Frage hatte er mir die Absurdität meines Tuns vorgeführt. Wie kann man etwas zeigen, wenn man nicht sehen will? In den folgenden zwei Jahren reiste ich viele Male in die Südstaaten. Es waren jeweils schwierige Reisen, begleitet von Ängsten, Nöten und oftmals verzweifelten Versuchen, meiner eigenen Geschichte davonzurennen. Oder, wie Margret Mellert 1991 im Vorwort meines Buches Bluesland schrieb:
«Die Bildersuche im Delta wurde zu einer Art Aufklärungsarbeit, von der er nicht mehr loskam. Immer wieder reiste er in den Süden, liess sich vereinnahmen und wieder ausspeien von dem unbamherzigen Land. Glaubte nach jeder Rückkehr, er werde es nicht ein weiteres Mal schaffen. Und fuhr doch wieder hin.»
Wale Liniger ist ein Lehrer, einer, der sich nicht mit dem Glanz der Oberfläche zufrieden gibt. Er ist ein notorischer Fragensteller, einer, dem die Frage ebenso wichtig ist, wie die Antwort. Er ist kein «gäbiges» Gegenüber, das Zusammensein mit ihm dient nicht der Überbrückung von Leere oder gar Langeweile. Seit nunmehr 30 Jahren haben wir uns immer wieder getroffen. Die eigene Herkunft, unsere soziokulturellen Prägungen und vor allem die Frage, warum wir tun, was wir tun, waren meist Thema unserer Gespräche. Irgendwann beschloss ich, einen Film über diese Begegnungen zu machen. Kein Drehbuch zu haben war das Konzept. Es sollte ein Film in der Art und Weise werden, wie man früher Bluesjams organsierte. Instrumentierungen und Tonart ausmachen, anzählen...one, two, three! Scheitern durfte ein Teil des Prozesses sein. Es wurde ein Film über einen Freund.
Reto Camenisch
Bern, Juli 2020