Framing Agnes
US 2022, 75', DCP, E. Regie Chase Joynt. Drehbuch Chase Joynt, Morgan M. Page. Mit Jules Gill-Peterson, Chase Joynt, Angelica Ross, Jen Richards, Max Wolf Valerio, Silas Howard, Stephen Ira, Zackary Drucker.
Im Mai sind Julietta Singh und Chase Joynt zu Gast an der Universität Bern. Beide arbeiten in den Bereichen postkoloniale und dekoloniale Studien, Gender-Studien und Queer Theory und setzen sich in ihren textbasierten wie filmischen Arbeiten mit den anhaltenden globalen Auswirkungen der Kolonialisierung und deren Verschränkung mit Ökologie, Race, Geschlecht und Sexualität auseinander. Im REX stellt Chase Joynt seinen Film Framing Agnes vor.
Die Grundlagen des Films bilden das Leben von Agnes, einer trans* Frau und langjährigen Galionsfigur der Transgeschichte, sowie die vor einigen Jahren wiederentdeckten Aufzeichnungen von Interviews mit trans* Personen, die 1958 in Los Angeles an einer Studie des Soziologen und Ethnomethodologen Harold Garfinkel zu Geschlechter-Konstruktionen teilnahmen, die später als «Agnes-Studie» weltweit bekannt wurde. Die Teilnahme an der Studie ermöglichte es Agnes, Zugang zu geschlechtsangleichenden Behandlungen zu erhalten – ihre Geschichte galt lange als einzigartig. Chase Joynt besetzte den Film mit bekannten trans* Schauspielerinnen und Schauspielern, die sich in Reenactments einer US-Talkshow aus den 1950ern mit dem Vermächtnis von Agnes und anderen trans* Menschen dieser Epoche auseinandersetzen und in sehr persönlichen Interviews von ihren Erfahrungen mit der Verkörperung und Aneignung der historischen Figuren berichten. Framing Agnes gewann in Sundance u.a. den NEXT Audience Award und wurde vom Magazin «The New Yorker» zum besten Film 2022 gekürt.
Im Rahmen einer Reihe zu Schlüsselkonzepten der Geistes- und Sozialwissenschaften halten Singh und Joynt sie am Walter-Benjamin-Kolleg der Universität Bern einen öffentlichen Vortrag und bieten einen Workshop zum Thema «Archive» an, in dem sie sich mit kollaborativen Praktiken und der Komplexität von Archivrecherche beschäftigen. Gemeinsam arbeiten sie derzeit an dem experimentellen Dokumentarfilm «Museum of Forgotten Returns», der aufzeigt, wie die Geschichte von indigenen Aufständen, ökopolitischem Aktivismus, Rechten von Menschen mit Behinderung und von Rassifizierung in Kanada zusammenhängen. Der Film arbeitet mit «Trans* als Methode», einem Konzept, mit Hilfe dessen vorherrschende koloniale Erzählungen durch neue antikoloniale Narrative ersetzt werden, in denen zu Minderheiten gemachte Leben – z.B. die Leben nicht-geschlechtskonformer Menschen – im Mittelpunkt stehen. Wie «Trans* als Methode» funktionieren kann, zeigt Chase Joynt auch in seinem aktuellen Film Framing Agnes, einem medienkritischen Dokudrama, das einen vielperspektivischen Blick auf Transgeschichte von den 1950er-Jahren bis heute wirft.
Der Autor und Regisseur Chase Joynt ist Professor für Gender Studies an der University of Victoria (Kanada) und arbeitet derzeit zusammen mit der Soziologin Kristen Schilt an einem Buch mit dem Arbeitstitel Conceptualizing Agnes: Exemplary Cases and the Disciplines of Gender; sie nutzen auch hier «Trans* als Methode», indem sie Genregrenzen überschreiten und mit zeitgenössischen Formaten der akademischen und künstlerischen Wissensproduktion experimentieren, in deren Zentrum immer die Leben nicht-geschlechtskonformer Menschen stehen.