Was wäre die Schweiz ohne den Schweizer Film? Und was wäre der Schweizer Film ohne die Berge? Die in Kooperation mit dem Alpinen Museum Bern realisierte Filmreihe geht dieser Frage nach. Sie begleitet zudem die begehbare Filmcollage, die das Alpine Museum unter dem Niklaus Meienberg entlehnten Titel «Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt ins Hochgebirge» zeigt.
Seit 150 Jahren sind die Alpen das erfolgreichste Exportprodukt der Schweiz. Es sind natürlich nicht die Berge, die ins Ausland verfrachtet werden, sondern mediale Bilder von ihnen, die in globalen Netzwerken zirkulieren und Touristen ins Land verlocken sollten. Auch in der Schweizer Politkultur geniessen die Berge einen hohen symbolischen Wert als Verkörperung von Freiheit, Unabhängigkeit und Zielstrebigkeit: jene Werte, die den Gründungsmythos der Schweiz prägen. Doch genau diese Verknüpfung von Geografie, Patriotismus und Vermarktung macht die Berge auch ideologisch suspekt.
Seit rund 100 Jahren werden Schweizer Filme in den Bergen gedreht. Paradoxerweise sind es vor allem Nicht-Schweizer, welche die Alpen filmisch zelebrieren, während viele einheimische Filmschaffende eher kritisch reagieren, wenn es um die Berge geht. In Deutschland beispielsweise gab es nur wenige Phasen in der Filmgeschichte, in denen kitschige Heimatfilme nicht gross im Trend lagen. In der Schweiz hingegen sind es seit Jahrzehnten die heimatkritischen Filme, die immer wieder herausragen. Und darin spielt die Beziehung zu den Gebirgslandschaften eine wichtige Rolle.
In der Entstehungszeit des Bergfilms waren es vorwiegend deutsche Spielfilmproduktionen, die in den Schweizer Alpen gedreht wurden. Die Schweizer Filmbranche konzentrierte sich erstmals hauptsächlich auf dokumentarische Aufnahmen von alpinistischen Aktivitäten, bevor sie mit der Produktion von Bergdramen, wie etwa Rapt (1934, nach einem Roman von Charles-Ferdinand Ramuz) oder Kleine Scheidegg (1937) begann. Erst mit der «Geistigen Landesverteidigung » ab Mitte der 1930er-Jahre, womit die Schweiz sich ideologisch und kulturell vom Nationalsozialismus und Faschismus zu distanzieren versuchte, kam die Beschäftigung des Schweizer Spielfilms mit den Bergen erst richtig in Schwung; in dieser Zeit entstand auch Eduard Probsts Bergromanze Bergführer Lorenz (1943). Anders als die protofaschistischen deutschen Bergfilme, welche die Überlegenheit von Bergwelt und Bergsteigern gegenüber dem Leben im Tal behaupteten, nahmen diese Filme die Alpen als Symbol für die gesamte «wehrhafte» Schweiz und ihre demokratischen Werte. Im Gegensatz zum Alpen-Abenteuer-Film inszenierten sie ihre Geschichten eher in der Gesellschaft des Bergdorfes als auf dem einsamen Gipfel.
Die «Geistige Landesverteidigung» leistete zwar Widerstand gegen den Faschismus, doch längerfristig war ihr Erbe ein rückwärtsgewandter Patriotismus, der in der Nachkriegszeit zu erstarren drohte. In diese erstarrte Idylle platzten dann die Nonkonformisten und Rebellen der 1968er-Generation, die sich in den 1960ern und 1970ern auch filmisch von der Aktivdienstgeneration der Eltern distanzieren wollten. Sie machten Schluss mit ideologisch verbrämten Bergansichten, um den Alpen mit einem kritischen, ethnografisch geprägten Blick zu begegnen – oder aber sich ganz davon abzuwenden, um das zersiedelte Mittelland oder das Stadtleben in ihren Fokus zu nehmen.
Ihr dekonstruktivistischer Umgang mit Bergbildern hat dem Schweizer Kino viele unvergessliche Szenen beschert. Wie etwa die zwei jungen Frauen in Alain Tanners Messidor (1979), auf einem verhängnisvollen Road-Trip durch die Schweiz unterwegs, die auf einem Berggipfel hocken und ihre Notdurft verrichten. Oder der «jähzornige » Bub aus Fredi M. Murers Höhenfeuer (1985), der seine Wut beim Steinespalten rauslässt, bevor er im Lauf des Films den eigenen autoritären Vater umbringt. Solche Szenen gehören inzwischen zu den Klassikern des «Neuen Schweizer Films». Bemerkenswert daran ist nicht nur die rebellische Haltung ihrer Filmfiguren, sondern auch ihre Machart. Abgeschnittene Gebirgsgipfel statt Bergpanoramen, Nebel und graue Kälte statt Blumenwiesen beziehungsweise funkelnden Eises in der Sonne: So drehte man bewusst unvorteilhafte Darstellungen der Berglandschaft.
Auf die Verweigerung der schönen Alpenbilder folgte die Verweigerung der Bergbilder schlechthin: In der Zeit rund um die Jugendbewegung der 1980er-Jahre taugten die Bergregionen fast gar nicht als Ort der Handlung. Ein paar Ausnahmen gibt es durchaus, doch die exemplarische Landschaft dieser Zeit ist die graue Betonstadt oder, noch besser, die zubetonierte Vorstadt. Einen Höhepunkt der Alpen-Verdrossenheit erreichte die Jugendbewegung der 1980er- Jahre mit ihrem Spruch: «Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer». Erst gegen Mitte/Ende der 1990er, und erst recht ab den 2000er-Jahren konnte sich der Schweizer Film von sämtlichen Vorgänger-Generationen ablösen und einen neuen Umgang mit den Bergen pflegen: weder nationalistisch noch nihilistisch. Merkmale dieser neuen Haltung – soweit sie sich einheitlich zusammenfassen lässt – sind eine neue Subjektivität, ein unverkrampfter Umgang mit Emotionalität und ein Gespür für Genre-Konventionen.
Einer der ersten Vertreter dieser neuen Haltung war Thomas Imbach. In seinen Filmen haben die Landschaftsaufnahmen eine poetische, visionäre Ausstrahlung, die in bewusstem Gegensatz zur Hektik des modernen Lebens steht, gleichzeitig aber nie ganz davon zu trennen ist. Für seinen halbdokumentarischen Spielfilm Lenz (2006), eine eigenwillige Neuinterpretation der Büchner-Erzählung, gab er dem Matterhorn eine Rolle als imaginären «Sparring Partner» des Titelhelds und als Projektionsfläche für dessen wechselnde Gemütslagen (der Berg erscheint als Nebendarsteller im Abspann des Films!).
Dass die Berge als Ort der Handlung auch für turbulente Geschichten und rebellische Helden taugen, zeigen sowohl Ursula Meiers Familiendrama Sister (2012) wie auch Simon Jacquemets Chrieg (2015). In diesen Geschichten besticht die Wahl der Berglandschaft als Drehort, gerade weil diese nicht einfach als Kulisse dient, sondern in der Dramaturgie eine entscheidende Rolle spielt. Die Welt auf dem Berggipfel und die Welt unten im Tal entlarven sich je länger je mehr als Mikrokosmen, die das Leben der Filmfiguren einschränken und bestimmen. Schliesslich bleibt das Verhältnis der einheimischen Filmschaffenden zu den Schweizer Bergen durchaus eine Liebesbeziehung: allerdings eine, die mit «it’s complicated » bezeichnet werden müsste.
Marcy Goldberg
Marcy Goldberg, aufgewachsen in Montréal, Kanada, wohnt seit 1996 in Zürich. Sie ist Filmhistorikerin und selbständige Medienberaterin, Dozentin für Kulturund Medienwissenschaft an der ZHdK und der HSLU.
Der vorliegende Text ist eine gekürzte und adaptierte Fassung ihres Artikels aus «Filmbulletin» 6/2015.
https://www.youtube.com/watch?v=p_1vGeRxwVY