Die Vielfalt schwarzen Filmschaffens und die Darstellung schwarzer Lebenserfahrungen im Kino: Damit befasst sich die Retrospektive «Black Light» des Filmfestivals Locarno. Das REX hat aus über 40 Filmen 16 Titel ausgewählt, darunter auch Werke weisser Filmschaffender. Die Reise beginnt mit Oscar Micheaux' legendärem Stummfilm Within Our Gates und führt von den sogenannten Race Movies über Blaxploitation-Produktionen bis zu Meilensteinen des schwarzen Independent-Kinos.
Lukas Foerster
In der ersten Szene von Shirley Clarkes The Cool World (1963) unternimmt eine New Yorker Schulklasse einen Ausflug. Der Bus startet in Harlem, der Heimat der Schüler. Fast alle sind schwarz, und während sie zunächst noch viel aus dem Fenster schauen und sich gegenseitig auf Passanten hinweisen, lässt ihr Interesse an ihrer Umgebung rapide nach, sobald sie den südlicheren, reicheren, weisseren Teil Manhattans erreichen. Schliesslich steigen sie aus und werden von ihrem Lehrer zur berühmten George-Washington-Statue an der Wall Street geführt. Mit der Lektion in Sachen Patriotismus und Demokratie, die sie hier erhalten, können sie sichtlich wenig anfangen, unbeeindruckt schlendern sie durch die Gegend, auch für die Wolkenkratzer haben sie kaum einen Blick übrig. Wer möchte es ihnen verdenken – die Strassen, in die sie der Bus kutschiert hat, mögen von den Vierteln, in denen sie wohnen, faktisch nur wenige Meilen entfernt sein; sie könnten sich jedoch genauso gut auf einem anderen Planeten befinden. Mit der Welt der Hochfinanz und dem idealistischen Demokratiebegriff ihres Lehrers hat ihr Leben schlichtweg nicht das Geringste gemeinsam.
Diese bravouröse Sequenz, nach der der Film Harlem kaum noch (genauer gesagt: nur noch für eine traumartig verspielte Sequenz in Coney Island) verlässt, macht eine zentrale Aufgabe deutlich, die dem Black Cinema in den USA insbesondere bis in die 1960er- und 1970er-Jahren zukam. Filme wie The Cool World – seinerseits von einer weissen Regisseurin gedreht, einer der grossen Aussenseiterinnen der amerikanischen Filmgeschichte – wollen amerikanische Lebensrealitäten sichtbar machen, Erfahrungswirklichkeiten Bild werden lassen, die im Hollywoodfilmschaffen dieser Zeit keine oder höchstens eine äusserst periphere Präsenz hatten. Fragen des Zusammenlebens mit der weissen Bevölkerungsmehrheit, der Unterdrückung und Diskriminierung werden dabei nicht ausgeklammert, bleiben aber oft im Hintergrund.
In den Achtzigerjahren hingegen, mit dem Aufkommen einer neuen Generation schwarzer Filmemacher wie etwa Spike Lee, rücken genau diese Themen ins Zentrum: Kann im heutigen Amerika, geprägt von einer lebendigen Geschichte des Rassismus, ein Zusammenleben aller Bevölkerungsgruppen überhaupt funktionieren? Welche Traumata müssen dafür aufgearbeitet, welche Barrieren müssen beseitigt werden. Was passiert, wenn die schwarzen Schüler sich nicht nach Harlem zurückchauffieren lassen, sondern beschliessen, im Zentrum Manhattans zu bleiben und sich einen Platz an der Sonne zu erkämpfen? Lees Frühwerk She’s Gotta Have It (1986) etwa ist zwar auf den ersten Blick noch nicht so kämpferisch angelegt wie einige seiner späteren Filme; dennoch zeugt die raffiniert inszenierte romantische Komödie vom neuen politischen Selbstbewusstsein einer aufstrebenden urbanen Mittelschicht. She’s Gotta Have It – sie, beziehungsweise Lees Hauptfigur Nora Darling, will es haben, alles auf einmal: gleich drei verschiedene Liebhaber und ein erfolgreiches, selbstbestimmtes Leben als freischaffende Künstlerin sowieso.
Diese und viele andere zum Teil, wer weiss, komplett gegenläufige Entwicklungslinien lassen sich in der Retrospektive «Black Light» des Filmfestivals Locarno nachverfolgen, die vom REX in Teilen übernommen wird. Das Thema der Reihe mag auf den ersten Blick ambitioniert, fast ein wenig grössenwahnsinnig anmuten: Ist es wirklich möglich, die Vielfalt schwarzen Filmschaffens in einem Programm abzubilden? Oder auch: Gibt es sie überhaupt, die eine schwarze Filmästhetik?
Die von Greg de Cuir Jr. zusammengestellte Auswahl antwortet auf solche Skepsis mit einer klaren Fokussierung: Das schwarze Licht ist zwar grundsätzlich ein internationales Phänomen, im Zentrum der Reihe stehen jedoch die Erfahrungen schwarzer Menschen in den USA und deren filmische Repräsentation von der Stummfilmzeit bis (fast) in die Gegenwart. Am Anfang dieser speziellen Geschichte des schwarzen Kinos stehen die sogenannten Race Films, die ausschliesslich für ein schwarzes Publikum produziert wurden und über mehrere Jahrzehnte hinweg eine Art Parallelkinematographie jenseits des Hollywood-Studiosystems bildeten. Die Race Films waren das Produkt einer zutiefst rassistisch geprägten Gesellschaft, und dennoch schufen sie Arbeitsmöglichkeiten nicht nur für zahlreiche schwarze Schauspielerinnen und Schausspieler, sondern auch für schwarze Filmpioniere wie etwa den legendären Oscar Micheaux, der zwischen 1919 und 1948 über 40 Filme realisieren konnte. Als eines seiner Meisterwerke gilt Within Our Gates von 1920, eine Antwort auf David W. Griffiths von rassistischer Ideologie durchsetzte Grossproduktion The Birth of a Nation: Wo Griffith den Ku-Klux-Klan zum Retter der amerikanischen Demokratie stilisierte, erzählt Micheaux, ausgestattet mit weitaus geringeren finanziellen Mitteln, aber ebenso ehrgeizig, vom mühsamen Kampf schwarzer Bürgerrechtler gegen Vorurteile, Armut und religiöse Ignoranz. Der Film ist mehrsträngig und nichtlinear erzählt, zum Grund allen Übels, einem Lynchmord, stösst er erst gegen Ende vor.
The Blood of Jesus (1941) von Spencer Williams hingegen zeigt den Race Film von einer ganz anderen Seite: ein stilbewusst inszeniertes metaphysisches Melodram um eine Frau, die sich zwischen Engel und Teufel, dem sündigen Nachtclubleben und einer gottgefällig bescheidenen Existenz entscheiden muss. Die politischen Aspekte bleiben implizit, umso mehr ist der Film geprägt von einer volkstümlichen Religiosität und auch von der schwarzen Musikkultur seiner Zeit. Das ist in manchen Szenen gar nicht mehr so weit weg vom Blaxploitationkino der 1970er-Jahre, des Jahrzehnts, in dem das schwarze Kino zum ersten Mal auf breiter Front im amerikanischen Mainstream ankam. Blaxploitation-Produktionen wollten in erster Linie unterhalten, und zwar ein möglichst breites Publikum – wobei Filme wie der psychedelisch entschleunigte Vampirschocker Ganja & Hess (1973) von Bill Gunn eher als Schmuggelware beschrieben werden können, die die plötzliche Popularität des schwarzen Genrekinos in erster Linie dazu nutzen, genuin verstörende Bilder eines neuen schwarzen Selbstbewusstseins auf die Leinwände des Landes zu befördern.
Parallel zum Blaxploitationwahnsinn entstand ein ganz anderes, reflektierteres, introspektiveres schwarzes Kino. Insbesondere im Umfeld der sogenannten LA Rebellion machten sich Filmschaffende daran, ein schwarzes Independent-Kino jenseits des Mainstreams aufzubauen. Ein zentrales Meisterwerk dieser Bewegung ist Charles Burnetts Killer of Sheep (1978), eine melancholische, umwerfend schön auf schwarz-weissem 16mm-Material fotografierte Los-Angeles-Ballade über das Leben eines Mannes, der zwischen seiner Arbeit in einem Schlachthaus und dem stressigen Familienalltag zu zerbrechen droht.
Hier zeigt sich besonders deutlich, warum sich «Black Light» nicht auf das amerikanische Kino beschränken kann. Die zumeist an Filmhochschulen ausgebildeten Regisseurinnen uns Regisseure des neuen Independent-Kinos holten sich ihre Inspiration aus aller Welt; und neben dem italienischen Neorealismus, der gerade Burnett sehr wichtig war, zog sie vor allem das revolutionäre Filmschaffen der damals sogenannten Dritten Welt an. Julie Dashs Daughters of the Dust (1991) etwa, ein von Musik, Licht und Stofflichkeit eher als von einer Erzählhandlung strukturiertes Filmgedicht über eine weitgehend autark lebende Gemeinschaft ehemaliger Sklaven in South Carolina, wäre kaum denkbar gewesen ohne die Begegnung der Filmemacherin mit dem selbstbewussten schwarzen Filmschaffen aus den karibischen Ländern und aus Afrika.
In der Auswahl des Kino REX ist dieser internationalistische Aspekt des schwarzen Kinos vor allem durch zwei brasilianische Filme vertreten: Orfeu negro, Marcel Camus’ Welterfolg aus dem Jahr 1959, hat in seinem bewundernden, aber auch exotisierenden Blick auf schwarze Körperlichkeit das europäische Brasilienbild geprägt wie kaum ein zweiter Film; Abolição (1988) von Zozimo Bulbul ist sozusagen der Gegenschuss dazu: ein Dokumentarfilm über die Geschichte der schwarzen Kultur Brasiliens seit der Abschaffung der Sklaverei, mäandernd, materialreich und unversöhnt. Eine Entdeckung, die zeigt, warum es sich lohnt, auch weiterhin in den vielfältigen Archiven des schwarzen Lichts zu forschen.
Lukas Foerster, geboren 1981 in Freiburg im Breisgau, studiert an der Freien Universität Berlin Filmwissenschaft und Japanologie . Seit 2005 arbeitet er als Filmkritiker für das Internetmagazin critic.de und seit August 2007 auch für den Perlentaucher. Weitere filmbezogene Texte veröffentlicht er auf seinem Blog Dirty Laundry sowie im «Film-Bulletin» und in «Cargo».
Die Retrospektive wurde kuratiert von Greg de Cuir Jr.
Mit freundlicher Unterstützung