BÖSE SPIELE
RIMINI SPARTA
AT/FR/DE 2023, 203', DCP, OV/d. Regie Ulrich Seidl. Drehbuch Ulrich Seidl, Veronika Franz. Mit Hans-Michael Rehberg, Michael Thomas, Georg Friedrich.
Zum Start von Sparta zeigen wir die von Ulrich Seidl ursprünglich geplante integrale Fassung Böse Spiele – Rimini Sparta.
Stefan Grissemann
Als Ulrich Seidl im Februar 2022 – neun Jahre nach seinem letzten Spielfilm – die Regiearbeit Rimini veröffentlichte, eine um Schlagermusik, Sex und missglückte Vaterschaft kreisende Erzählung, hiess es, ein zweites, mit diesem ersten inhaltlich verbundenes Werk sei ebenfalls bereits fertiggestellt. Eine Art Doppelfilm kündigte sich an, das Drama zweier ungleicher Brüder, die an entlegenen Schauplätzen fernab ihrer österreichischen Heimat prekäre Existenzen führten: der eine ein alternder, mit allerlei Überlebenstricks und Eloquenz ausgestatteter Sänger, der an der winterlich-nebeligen Adriaküste seine Lieder in tristen Mehrzweckräumen vor einem Publikum darbietet, das – wie er selbst – schon bessere Zeiten gesehen hat; seinen weiblichen Fans steht er, bei Bedarf, nach den Konzerten als bezahlter Liebhaber zur Verfügung.
Der jüngere der beiden Brüder, der im Mittelpunkt des vor allem in Rumänien gedrehten Films Sparta steht, ist charakterlich anders disponiert: Er wirkt niedergeschlagen, wortkarg und scheu, in seinem Inneren tobt ein Dauerkampf. Auf der Flucht vor sich selbst verlässt er seine Freundin und beginnt im rumänischen Niemandsland ein neues Leben, stellt sich unentgeltlich als Sporttrainer und Sommerlager-Organisator für die Kinder armer, gewalterschütterter Familien zur Verfügung. Er begibt sich, psychisch zerrüttet, auf eine gefährliche Gratwanderung; er sucht die Nähe der Jungen, die er begehrt, und will zugleich auch deren Recht auf Unversehrtheit wahren, ihnen fern genug bleiben.
Seidls Weigerung, dieser zwischen Täterschaft und Opfergang changierenden Figur mit moralisierendem Gestus zu Leibe zu rücken, mag dazu beigetragen haben, dass man im September 2022, ausgehend von einer Recherche des deutschen Nachrichtenmagazins «Der Spiegel», einen Skandal um Sparta ausrief: Seidl und sein Team hätten am Set Kinder «offenbar ausgenutzt», womöglich traumatisiert, indem sie diese «Gewalt und Nacktheit ausgesetzt» hätten. Die schweren Vorwürfe erhärteten sich auch nach monatelangen Prüfungen durch Polizei und Filmsubventionsstellen nicht, die Rufschädigung blieb.
Die schiere Materialfülle, die sich während der dreijährigen Montagearbeit (mit Tár- und Haneke-Editorin Monika Willi) ergab, brachte Seidl dazu, das Projekt Böse Spiele in zwei Filme aufzuspalten. Seine ursprüngliche Vision gab er jedoch nie auf – und so liegt nun auch die integrale, knapp dreieinhalbstündige Fassung vor, in der die Erlebnisse der Brüder gegeneinander geschnitten, parallel geführt sind; die narrativen Linien addieren sich darin nicht einfach nur, sie werden eher multipliziert, erhellen einander auf ungeahnte Weise, legen latente Nebenmotive und Echos frei.
Zwei alte Seidl-Komplizen stellen die Protagonisten dar: Michael Thomas, seit Import Export (2007) Teil der erweiterten Familie des Filmemachers, durchläuft mit Verve und Resilienz ein verpfuschtes Leben, während Georg Friedrich, den Seidls Hundstage 2001 berühmt gemacht hat, in die Abgründe eines gequälten Pädophilen blicken lässt, dabei gewaltige Fallhöhe entwickelt. Das infernalische Epizentrum dieses Brüder-Dipytchons aber liegt in der von Hans-Michael Rehberg verkörperten Vaterfigur, dessen letzter Filmauftritt (er starb im November 2017) hier stattfindet: Es ist seine erschütternde Performance als in Demenz, Nazi-Nostalgie und Todesangst sich verlierender Seniorenheimbewohner, die diesen Erzählungen ihren blutroten Faden verleiht: Böse Spiele lotet das toxische Erbe patriarchaler Machtausübung, die transgenerationale Weitergabe auch historisch bedingter Dysfunktionen aus.
Die Dringlichkeit der Inszenierungen Seidls ergibt sich aus der Liaison von kompromisslosem Blick und semidokumentarischer Unmittelbarkeit. Hinter der Rigorosität der Bildkompositionen und dem (nur scheinbaren) sozialen Pessimismus dieses Filmemachers steckt jedoch eine zutiefst humanistische Sehnsucht: eine tröstliche Form zu finden für all das Unerfreuliche, das in der Welt ist.